Eigentlich hatte ich gehofft, diesen Beitrag niemals schreiben zu müssen. Aber in den letzten Monaten ist doch ganz schön viel passiert und mir brennt es gerade zu auf der Seele, meinen Gefühlen und Gedanken ein wenig Raum zu verschaffen.
Warum seid ihr noch in Brasilien? Wann endet diese ewige Krise? Ist es nicht woanders deutlich besser?
Diesen Fragen bekomme ich in Rio de Janeiro fast wöchentlich gestellt. Und in den letzten Monaten sehe ich immer mehr Familien, die in die USA oder nach Portugal auswandern. Aber warum?
Rio de Janeiro: Armut und Reichtum an einem Ort
Als ich 2014 nach Rio de Janeiro gezogen bin, wusste ich, dass es nicht immer und überall sicher ist. Diese riesige Millionenmetropole ist geprägt von Armut und damit auch einer ständigen und überall vorherrschenden Kriminalität.
Wenn du jetzt an Taschendiebstahl denkst, wäre das noch die harmloseste Variante. Doch mitunter geht es viel gewalttätiger zu und nicht selten haben die Kriminellen Messer oder Waffen bei sich.
In 2014 war für mich irgendwie alles noch in Ordnung. Jeder trug noch die Emotionen der Fußball-WM in sich und die Vorfreude auf Olympia stieg. Es gab viele Arbeitsplätze, denn es musste noch vieles gebaut werden und auf einen Tourismus-Boom stellte sich das Land auch ein. In Rio de Janeiro war diese Freude besonders zu spüren.
Doch ziemlich schnell kam es nach den Olympischen Sommerspielen zum Stillstand. Ich kenne viele Freunde, die ihre Jobs verloren haben. Die vielen Baustellen der Stadt wurden beendet oder einfach stillgelegt.
Die Freude darüber, dass Präsidentin Dilma des Amtes enthoben wurde, währte nicht lange. Denn ihr Nachfolger hat im Land so gar nichts geändert und Korruption und Amtsmissbrauch sind die maßgebenden Schlagworte der täglichen Nachrichten.
Und mit der steigenden Arbeitslosigkeit wächst die Kriminalität. Menschen verlieren ihre Jobs und ihnen bleibt kein Ausweg, als durch Diebstahl ihre Familie zu ernähren. Damit bleibt auf Dauer aber auch der Tourismus aus. Ein Kreislauf von Gewalt, Kriminalität und Armut.
Angst – mein ständiger Begleiter
Ich danke Gott jeden Tag, dass mir bisher noch nie etwas passiert ist und ich habe auch nichts in meiner unmittelbaren Nähe beobachten müssen. Aber seit ungefähr 5 Monaten häufen sich die unschönen Vorfälle in meinem Freundeskreis.
Von bewaffneten Überfällen auf der Straße höre ich in den Nachrichten nun täglich. Diese gab es schon immer, aber viele Stadtteile wurden einigermaßen verschont. Mittlerweile lauert die Gefahr aber sogar auch vor meiner Haustür.
Und dennoch muss ich es schaffen, mich von dieser ständigen Angst zu befreien und trotzdem vor die Tür zu gehen. Natürlich habe ich Verantwortung für mein Kind. Aber ich kann es ja auch nicht fern ab von jeglicher Realität erziehen?
Mein Mann hat mich gut geschult in dem: „Was tun, wenn ich überfallen werde.“ Einfach alles hergeben, nicht schreien, nicht diskutieren, mein Kind ganz fest in dem Arm halten und einfach alles hergeben: Bargeld, Handy etc.
Dazu gehört auch, nicht gänzlich ohne Geld oder etwas „Wertvollem“ aus dem Haus zu gehen. Denn wenn ich versuche zu erklären, dass ich nichts habe, glaubt mir das womöglich keiner.
Gestohlen wird also nicht unbemerkt, sondern unter Androhung von Gewalt oder Einschüchterung durch Waffen. Der Besitz dieser ist zwar nicht erlaubt, aber die Kriminellen kommen alle irgendwie an Waffen.
Gestohlen werden also gerne Autos, Handys, Geldbörsen, Schmuck oder Handtaschen.
Aus diesem Grund sitze ich (und mit diesem Prinzip bin ich nicht alleine) im Auto meist hinten bei Arthur während Ivan fährt. Denn falls es mal schnell gehen muss und wir das Auto hergeben müssen, habe ich im Zweifel nicht genug Zeit, um von vorn nach hinten zu laufen und mein Kind abzuschnallen.
Warum leben wir dann noch immer in Rio de Janeiro?
Die bessere Frage wäre, wann sind wir bereit für einen Neuanfang? Denn wir sind mittlerweile davon überzeugt, bald nach Deutschland zu kommen. Die einzige Frage ist, wann wir dazu bereit sind. Wann werden wir anfangen, die Türen hinter uns zu schließen, alles zu verkaufen, unsere Jobs zu kündigen und uns auf die Suche nach etwas Neuem in Deutschland zu begeben?
Wenn ich daran denke, wird mir ein wenig mulmig. Das ist nicht einfach ein Umzug für mich, sondern ein neues Leben, was beginnt und das ich nicht alleine, sondern mit meiner ganzen Familie von null starte.
Ich fühle mich in Rio momentan trotzdem sicher, weil mein Mann mir eine große Sicherheit schenkt. Aber kann ich ihm diese auch in Deutschland schenken? Der wohl größte Unterschied wird für ihn die positive Lebenshaltung sein. Denn bei all der Kriminalität, all den Sorgen, der Armut und den Problemen in Rio de Janeiro sind die Brasilianer so aufgeschlossen, freundlich und positiv gelaunt, dass man regelrecht mitgerissen wird. Es scheint keine negativen Grundhaltungen zu geben und keine Situation, die ausweglos erscheint. Überall gibt es eine Lösung, ein Ausweg aus der momentanen Situation und vor allem den Glauben an Gott.
Was wir Deutschen von den Brasilianern lernen können
Wenn ich hier in Deutschland dagegen in die meisten Gesichter schaue, sehe ich so oft Bitterkeit und Trauer. Vielleicht täusche ich mich auch. Aber in puncto Service wird das ebenfalls deutlich: Bei der Bestellung im Restaurant muss man sich bemerkbar machen, um bedient zu werden. In Geschäften muss man das Personal erst zwischen hunderten von Regalen suchen.
„Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ Moliére
Ich liebe Deutschland und ich weiß spätestens, seitdem ich in Rio wohne, welche Vorteile und Benefits dieses Land uns und unseren Familien bietet. Die Sicherheit, die Sozialleistungen, das Krankensystem, die Bildung, einfach so vieles. Und oft frage ich mich, was denn so schlimm ist, dass so wenig gelächelt wird?
Machen wir es doch ein bisschen wie die Carioca und fokussieren uns nicht auf das Problem, sondern auf den Ausweg. Und erinnern wir uns daran, dass wir nie alleine sind und immer auf Hilfe zählen können. Wenn wir unsere Mitmenschen lieben, egal welche Macken sie vielleicht haben, wird auch keine Umarmung zur Qual, sondern ein Ausdruck von Freundschaft und Vertrauen.
Ich wünsche mir so sehr, dass wir genau das vor unseren Kindern leben und in sie pflanzen.
Meine Oma hat neulich ihren 80. Geburtstag gefeiert und über zwei Tage hinweg über 70 Gäste empfangen. Ist das nicht schön, wenn auch in so einem hohen Alter noch so viele Menschen an einen denken und sich an diesem Tag mit freuen? Das wünsche ich mir so sehr für die kommende Generation unserer Kinder.